top of page

Der Mythos vom Ankommen

  • kathrinvornholt
  • 15. Juli
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 20. Juli


ree

Lange Zeit dachte ich, Ankommen wäre ein Ziel. Fixe Adresse, sicherer Job, feste Beziehung. Ein Leben, in dem sich alles stabil anfühlt. Mir wurde oft erzählt, dass das irgendwann kommt. Kommen muss. Ankommen wurde gleichgesetzt mit „es geschafft haben“ – was auch immer damit gemeint war. Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr zweifelte ich daran.


Leben bedeutet Veränderung. Und die wollte ich. Ich wollte raus aus meiner Komfortzone. Die Welt bereisen. An fremden Orten leben. Dinge mit eigenen Augen sehen, die ich bisher nur aus den Nachrichten kannte. Ich war überzeugt: Danach wäre bestimmt noch genug Zeit, um „anzukommen“.


Kurzer Check-in: Wann können wir eigentlich sagen, dass wir in einem fremden Land gelebt haben? Reicht es, irgendwo offiziell gemeldet zu sein?

Wohl kaum – in vielen Ländern ist das gar nicht möglich.

Zählt nur die Dauer? Drei Monate? Sechs? Ein Jahr?

Das fühlt sich zu messbar an. Vielleicht ist das wahre Kriterium viel weicher: Haben wir dort gearbeitet, geliebt, gelitten, gehofft? Haben wir uns dort – wenigstens für eine Weile – zuhause gefühlt?


Nach diesen Maßstäben habe ich in sechs Ländern auf drei Kontinenten gelebt. Achtmal umgezogen. Wohnung, WG, Couch, Container – you name it. Ich habe aus dem Rucksack gelebt, Zimmer sporadisch eingerichtet oder sogar neue Böden verlegt – je nachdem, wie lange ich bleiben wollte. Ich habe Freundinnen gefunden und manche auch verloren. Jeder Ort hatte seine eigene Zeit, sein eigenes Gewicht. Doch meine Gefühle – Glück, aber auch Trauer und Einsamkeit – blieben die gleichen. Egal, wo auf der Welt ich mich befand.


In fremde Welten einzutauchen formt den Charakter, die persönliche Stärke, die Resilienz. Ich habe viele glückliche Momente erlebt – und auch schwere Erfahrungen gemacht, die ich wie Souvenirs mitgenommen habe. Doch ich empfinde das nicht als emotionalen Ballast, sondern als wertvolle Erfahrungen, die mich bereichern, vielleicht auch ein Stück widerstandsfähiger machen.


Glücklich sein und im Luxus leben fällt uns vermutlich allen leicht. Es war eher das herausfordernde Leben, das mich am stärksten verändert hat – nicht durch Verzicht, sondern durch Erkenntnisse.


In einem der Länder, in denen ich lebte – wenn man es so nennen will – war fließendes Wasser Luxus. Der Strom fiel aus, manchmal mitten im wichtigsten Satz. Anfangs war das frustrierend. Dann wurde es Alltag.


Irgendwann merkte ich, wie viel ich früher für selbstverständlich gehalten hatte: sauberes Wasser aus der Leitung. Licht auf Knopfdruck. Volle Supermarktregale. Ich habe gelernt, wie wenig ich tatsächlich brauche, wenn ich mich innerlich erfüllt fühle. Und dass diese Fülle nicht aus Dingen kommt – sondern aus Momenten. Aus Begegnungen. Aus mir selbst.


Heute bin ich zurück in dem Örtchen, das ich damals verlassen hatte, um die Welt zu sehen. Ich habe vieles erlebt, wovon ich träumte: ferne Städte, Konfliktzonen, andere Sprachen, fremde Kulturen. Aber ich merke: Von Ankommen kann nicht die Rede sein. Kleine Anteile von mir sind irgendwo dort draußen geblieben.

Manchmal schalte ich hier das Licht an – und mein Gedanke geht zurück nach Bamako. Ich höre das leere Klicken des Schalters, spüre den stickigen Raum, der dunkel blieb. Oder ich packe verschwitzte Sportsachen in die Waschmaschine, und vor meinem inneren Auge sehe ich das Mädchen, höchstens sechs oder sieben Jahre alt, das in dem staubigen Hinterhof, der unterhalb meiner Wohnung lag, jeden Morgen die Kleidung ihrer Familie in einer kleinen Metallschüssel wusch. Ich gehe in den Supermarkt, greife nach allem, was auf meinem Einkaufszettel steht – und spüre kurz: Dankbarkeit. Oder Verlust. Verlust einer Zeit, die so nie wieder kommen wird.


Diese Erinnerungen sind keine Nostalgie. Sie sind Erfahrung. Und Erfahrung verändert uns. Sie stellt Fragen: Wie normal ist unsere Normalität? Wie viele Selbstverständlichkeiten sind anderswo die Ausnahme? Was bedeutet „Zuhause“, wenn man an mehreren Orten einen Teil von sich gelassen hat?


In einer Zeit, in der Mobilität mir selbstverständlich scheint, reden wir zu selten darüber, was das mit uns macht. Wir reisen, wir leben temporär woanders, wir lernen – und kommen verändert zurück. Doch die Gesellschaft erwartet oft, dass wir sofort wieder „reinpassen“. Die innere Veränderung, vielleicht sogar Zerrissenheit, sieht man niemandem an. Es wird erwartet, dass wir ankommen. Was ist, wenn dieses Ankommen eine Illusion ist?


Vielleicht ist Ankommen gar nicht das Ziel – sondern ein Konstrukt aus einer anderen Zeit. Sesshaftigkeit war lange das Ideal. Ein fester Wohnsitz, ein sicherer Job, ein geregelter Alltag – das galt als gelungenes Leben. Wer sich bewegte, wurde oft als getrieben angesehen. Als jemand, der flieht oder nicht zur Ruhe kommt. Aber vielleicht war diese Suche nie ein Zeichen von Unstetigkeit, sondern von Offenheit. Vielleicht ist Bewegung nicht das Gegenteil von Ankommen – sondern eine andere Art, zuhause zu sein: unterwegs, offen, lebendig.


Meine Erkenntnis: Ich kann mich an vielen Orten zugehörig fühlen – und doch nirgendwo ganz angekommen. Für mich ist das kein Defizit. Es ist Reichtum. „Wer Teil einer anderen Kultur war, wurde von ihr berührt – und trägt sie im Herzen“, sagte meine Freundin Gesine. Sie bringt es damit auf den Punkt. Man gewinnt Einsichten, die man nicht wieder verlieren kann. Wer einmal erkannt hat, wie vielseitig und komplex unsere Welt ist, kann nicht einfach zurück ins alte Leben.


Und genau das hat politische Bedeutung: Es schafft Offenheit. Empathie. Toleranz. Ein Verständnis für die Vielschichtigkeit der Welt – und dafür, dass Heimat nicht zwingend an Herkunft gebunden ist.


Heute weiß ich weniger klar, wer ich bin – und genau das fühlt sich manchmal richtiger an (dazu erscheint bald ein neues Essay).

Vielleicht geht es im Leben nicht darum, irgendwo endgültig anzukommen – sondern immer wieder zu spüren, dass man gerade genau da ist, wo man sein soll.

 
 
 

Kommentare


Welle

© 2024

© Copyright Kathrin Vornholt
bottom of page